Achtsamkeit: Das Leben leben. Im Interview mit Anne Stitz

Was die Münchener Tram mit Achtsamkeit zu tun hat? Vermutlich auf den ersten Blick nicht viel. Für Anne-Kathrin Stitz begann aber genau hier ihre Reise in ein neues Leben.

Von außen betrachtet hatte Anne ein total beneidenswertes Leben: Sie wohnte in München, war beruflich erfolgreich, verdiente genügend Geld und fiel die Karriereleiter hoch, ohne es überhaupt forciert zu haben. Mittlerweile hat sie ihr Leben neu ausgerichtet, wohnt in Husum an der Nordsee und hat sich voll und ganz der Achtsamkeit verschrieben. Sie ist selbstständige Achtsamkeits- und Yogalehrerin mit der Mission, mehr Bewusstheit in diese Welt zu bringen. Im Gespräch erzählte sie uns, wieso sie ihre alten Wege verlassen hat und warum Meditieren etwas ganz Hilfreiches ist.

Achtsamkeit – was ist das eigentlich?

Franziska: Achtsamkeit ist mittlerweile ein geflügelter Begriff. Die Bedeutung dahinter kennen aber nur die wenigsten. Was ist Achtsamkeit für dich?

Anne: Was eigentlich hinter Achtsamkeit steckt, ist eine bestimme Lebenshaltung. In dieser Lebenshaltung sind zwei Komponenten relevant:

1. Zum einen, dass wir bewusst im Augenblick, im Hier und Jetzt sind und unsere Aufmerksamkeit steuern: „Ich sitze jetzt hier und nehme alles wahr, was passiert, ohne in meine Gedanken abzudriften.“

2. Und zum anderen, dass wir den jetzigen Moment so annehmen, wie er ist. Leid und Stress entstehen, indem wir gegen irgendetwas ankämpfen, was wir nicht wollen, aber auch nicht unbedingt ändern können. Besser sollten wir lernen, den jetzigen Moment anzunehmen, wie er ist.

Franziska: Wie kamst Du zur Achtsamkeit?

Anne: Ich hatte ein von außen total cooles Leben: guter Job, die Karriereleiter bin ich hochgehüpft – vermeintlich passte alles. Als ich dann aber eines Abends nach einigen anstrengenden Wochen völlig erschöpft in der Münchener Tram saß, habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr kann und dass ich eigentlich auch nicht mehr will. Ich habe innegehalten und mich gefragt: „Ist das das Leben? Ist das mein Leben? Will ich so leben? Was mache ich hier eigentlich?“

Ist das das Leben?

Ist das mein Leben?

Will ich so leben?

Sei ehrlich zu dir selbst:
Anne hat sich diese Fragen beantwortet und ihre Schlüsse daraus gezogen.

Plötzlich kamen in mir wirklich existenzielle Fragen auf. Ich konnte so nicht weiter machen. Ich hatte das tiefe innere Bedürfnis nach Ruhe, Frieden, Verbundenheit, im Einklang sein mit mir selbst. Das war der Moment, in dem ich mein Handy gezückt und erstmal nach „Stressbewältigung“ und „Ruhe finden“ gegoogelt habe.

Franziska: Wie ging es dann für dich weiter?

Anne: Ich bin auf einen Artikel über Achtsamkeit gestoßen. Ich habe mich davor noch nie damit befasst, aber gedacht, dass klingt irgendwie spannend. In dem Artikel ging es um ein MBSR-Programm.

Franziska: MBSR ruft nach Erklärung! Was bedeutet das?

Anne: MBSR bedeutet mindfulness based stress reduction. Das MBSR-Programm stammt aus den USA und war vornehmlich für Menschen gedacht, die starke körperliche Probleme haben und deren Schmerzen nicht mehr mit der Schulmedizin therapierbar waren. Das MBSR-Programm ist ein Weg, wie diese Menschen lernen, besser damit umgehen zu können. Dann hat man gemerkt, dass dieses Programm nicht nur Schmerzpatienten hilft, sondern allen Menschen, die in irgendeiner Form mit Stress in ihrem Leben zu kämpfen haben. Dadurch ist es bekannter geworden.

Knapp zwei Monate nach meiner Internetrecherche in der Tram war ich dann selbst Teilnehmerin eines solchen MBSR-Programms. Also rein in den Kurs, schlecht vorbereitet, noch voll in meinem Stressrad und plötzlich haben wir meditiert.

Mein erster Gedanke: Das ist ja gar nicht meine Welt! Was soll ich denn jetzt meditieren und hier rumsitzen? Ich wollte Fakten, mehr Wissen, lernen, wie ich mit Stress umgehen kann. Am ersten Übungstag habe ich dann aber schon gemerkt, wie gut es mir tat, diesen einen Moment lang einfach mal innezuhalten und nach innen zu schauen – sich das mal wieder zu erlauben.

Franziska: Stichwort Meditieren. Dein Credo lautet: Meditiere jeden Tag 20 Minuten, es sei denn Du hast keine Zeit, dann meditiere eine Stunde. Klingt irgendwie paradox. Was meinst Du damit?

Anne: Der Satz stammt zwar nicht von mir, ich habe ihn auch nur aufgegriffen, aber ich liebe diesen Satz. In ihm verbergen sich drei Dinge:

1. Die Ausrede, wir hätten keine Zeit, ist eine Begrenzung, die wir in unserem Kopf geschaffen haben. Wir haben Zeit. Wir haben 24 Stunden am Tag Zeit, um Dinge zu erledigen. Es ist immer eine Frage der Priorisierung.

2. Viele möchten nicht meditieren, weil sie Angst haben, dass dabei Gefühle hochkommen könnten, vor denen sie sich verstecken. Diese Menschen stürzen sich dann unbewusst in Arbeit, um sich abzulenken, und sagen, sie hätten keine Zeit. Gerade dann ist es aber wichtig, mal nach innen zu schauen. Denn diese Gefühle – wie zum Beispiel Angst, Wut oder Traurigkeit – sind ja da und sie tauchen immer wieder auf, bis man ihnen zugehört und ihre Botschaft verstanden hat.

3. Wir haben verlernt nichts zu tun und in Stille zu sitzen. Wir erlauben es uns nicht mehr, weil wir unbewusst glauben, dass wir nur etwas wert sind, wenn wir viel leisten. Doch nur wenn wir mal aus dem Stresskreislauf ausbrechen und nach innen schauen, werden wir in Kontakt mit unserem wahren Selbstwert kommen.

Meditation verschafft uns schlussendlich mehr Zeit, weil wir einerseits verstehen, warum wir so gestresst sind – und andererseits erkennen, wie wir diesen Zustand verändern können.

Achtsamkeit_ Anne-Kathrin Stitz im Interview.
© Anne-Kathrin Stitz

Franziska: Für viele hat Meditieren einen esoterischen Touch. Was hältst Du von dieser Aussage?

Anne: Meditieren ist eine Bewusstseinsarbeit. Dabei werden neuronale Netze im Gehirn neu geknüpft – das lässt sich wissenschaftlich bestätigen. Durchs Meditieren verändert sich das Gehirn so, dass das Bewusstsein gestärkt wird und Emotionen besser reguliert werden können. Wir optimieren sozusagen unser Gehirn, um besser mit Herausforderungen im Alltag umgehen zu können. Mit Esoterik hat es aber nichts zu tun.

Franziska: Was kann ich durchs Meditieren erreichen?

Anne: Mehr Freiheit, Gelassenheit und inneren Frieden! Dabei geht es aber nicht darum, unangenehme Gefühle weg zu schieben. Ich will zum Beispiel Angst nicht wegmeditieren, sondern ganz im Gegenteil. Ich will sie zulassen und mir das anschauen. Was passiert da eigentlich? Wo ist denn die Angst? Wir alle wollen keine Angst spüren.

Aber warum eigentlich? Angst – ich persönlich merke es immer ganz stark im Brustkorb – ist so ein Druck, so eine Enge, und wenn man einmal gelernt hat, dass man sie spüren kann, ohne „gleich zu sterben“, ist es danach viel leichter, weil man die Angst einfach zulassen kann und nicht mehr zwanghaft vermeiden muss. Das allein gibt dir eine riesige Freiheit im Leben.

Franziska: Was empfiehlst du Menschen, die sich in der Stressspirale ertappen, und auf dich zu kommen, um eine achtsame Lebenshaltung zu erlernen?

Anne: Im Grunde würde ich immer den MBSR-Kurs empfehlen, denn um eine richtige Veränderung zu spüren, braucht man wirklich diese acht Wochen mit täglichen Praxiseinheiten. Wem das am Anfang zu viel ist und wer erstmal nur reinschnuppern will, kann gerne meinen Achtsamkeits-Schnupperkurs besuchen.

Man kann aber auch schon im Alltag anfangen. Es gibt eine kleine Übung, die heißt 3-Minuten-Atempause. Die lässt sich überall machen, indem man sich einfach irgendwo hinsetzt und den eigenen Atem beobachtet. Den hat man praktischerweise immer dabei, das kriegt niemand mit. Die Aufmerksamkeit soll dabei immer wieder auf die Atmung gelenkt werden. Wenn Gedanken kommen, einfach wieder ziehen lassen und die Aufmerksamkeit zurückholen zum Atem. Allein dabei merkt man schon nach ein bis zwei Minuten, wie sich der Körper reguliert, allein durchs Beobachten.

Das andere ist, immer mal wieder am Tag innezuhalten und zu gucken: Wie geht’s mir eigentlich gerade? Das kann man zum Beispiel machen, wenn man gerade im Büro am Rechner sitzt. Sich ein paar Sekunden nehmen und fragen: „Hey, wie geht’s mir gerade? Was für Gefühle sind da? Was brauche ich? Was für Bedürfnisse habe ich gerade?“ Die Antwort kann sein: vielleicht einfach mal kurz ruhen und die Augen schließen. Auch das macht schon ganz viel mit uns.

Oder eine dritte Übung: Wenn man unterwegs ist, einfach mal die Sinne öffnen und zuhören, welche Vögel gerade singen. Wenn ich dann merke, ich bin wieder in Gedanken versunken, die Gedanken einfach ziehen lassen. Die Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zurückholen und sich aufs Hören und Sehen konzentrieren, oder aufs Spüren. Das sind kleine Achtsamkeitsübungen für den Alltag, die ich wirklich jedem ans Herz legen kann.

Wenn du mehr über Anne und ihre Kurse erfahren, legen wir dir AMY & OM wärmstens ans Herz. Auf unserem Instagram-Kanal findest du außerdem viele Reels, in denen Anne kleine Achtsamkeitsübungen für den Alltag zeigt.