Wieder wild sein

Je mehr Bälle wir in der Luft halten und je höher die Ansprüche sind, die wir an uns selbst stellen, umso mehr sehnen wir uns nach ihr: der Pippi Langstrumpf in uns. Wild sein, frei sein – wie es uns gefällt.

Autorinnen: Silke Bruhns/Laura Rösch

Als die Geschwister Annika und Tommy ihre spätere Freundin Pippi Langstrumpf im gleichnamigen Kinderbuch zum ersten Mal erblicken, hebt das stärkste Kind der Welt nicht etwa sein Pferd hoch. Sie geht rückwärts spazieren. Warum das Mädchen mit den roten Zöpfen „Falschrum“ läuft? Weil Pippi eben einfach macht, was ihr gefällt. Sie geht ihren eigenen Weg. Und dabei hat sie jede Menge Spaß.

Was haben wir Pippi Langstrumpfs Unangepasstheit als Kinder bewundert. Alle wollten wir sein wie sie. Und heute?

„Ja, die Zeit vergeht und man fängt an, alt zu werden“, sagt Pippi einmal im Buch. „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“ Wir aber sind nicht zehn, sondern 30 oder 40 Jahre alt – und wir fühlen und verhalten uns heute nicht wie Pippi, sondern wie die schüchterne, artige Annika, die wir seinerzeit so langweilig fanden. Aber seien wir ehrlich: Annika – das ist jetzt unser Alltag. Wir ordnen uns äußeren Gegebenheiten unter, fügen uns in Strukturen ein und versuchen irgendwie durch den Tag zu kommen.

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Pippis Botschaft an alle: Astrid Lindgren sagte einmal: „Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen.“ ©Brianna Lee / Stocksy United

Selbstbewusst sein

Noch heute eignet sich die Romanfigur (auch wenn es unstrittig problematische Passagen, Vorurteile und Stereotypen in dem Kinderbuch gibt) als Vorbild in einer durchgetakteten Welt, in der Frauen noch immer weniger zugetraut wird als Männern. In der Frauen häufig aber auch sich selbst weniger zutrauen, als sie in der Lage sind zu tun. Vielleicht, weil sie dazu erzogen wurden, nicht unbändig zu sein? Wie oft haben wir früher den Satz „Jetzt seid aber nicht so wild!“, gehört. Und auch heute werden Töchter mit diesen Worten öfter zur Ordnung gerufen als Söhne. Denn: „Bist du aber wild!“, das ist für Jungen eine Auszeichnung. Also ist Pippi Langstrumpf nur ein Vorbild für Frauen? Quatsch, denn auch Männer können sich von Pippi eine Scheibe abschneiden. Sie macht jedem Mut, sich gegen die Bevormundung anderer zur Wehr zu setzen und sich gegen gesellschaftliche Konventionen und Traditionen zu stemmen.

Den Moment zulassen

Wir suchen uns „Pippi-Momente“, um dieses Gefühl mit in unseren Alltag zu nehmen. Momente, in denen wir eine Brücke vom (anstrengenden) Erwachsenensein zum (sorglosen) Kindsein schlagen.

wOnne-Redakteurin Laura erinnert sich an ihre schönsten „Pippi-Momente“ der vergangenen Monate:

Wir wollten den Sonntag entspannt ausklingen lassen und beim Italiener eine Pizza essen. Und dann das: Alle Tische waren belegt! Wir orderten die Pizza daraufhin zum Mitnehmen – und aßen sie direkt auf dem Parkplatz-Boden hinter dem Lokal. Die Kinder reden noch heute mit großen Augen vom „Straßen-Picknick“.

Abends schwimme ich gerne ein paar Bahnen im Hallenbad – und einmal bin ich in der Umkleidekabine direkt in den Schlafanzug geschlüpft. Als ich so über den Parkplatz zum Auto spaziert bin, war das wie Rückwärtslaufen – und zu Hause bin ich glücklich ins Bett gefallen.

Der mit Abstand größte „Pippi-Moment“: Wir sind mit dem Auto für einen Tagesausflug Richtung Garmisch gefahren. Auf dem Weg dahin dachte ich nur ans Meer – und dann sind wir einfach weitergedüst. Haben ein Wochenende am Meer verbracht. Zahnbürsten und das Allernötigste im Supermarkt gekauft und haben zu viert in einem winzigen Zimmer geschlafen.

Allzu oft fehlt uns heute die Zeit für diese kleinen Auszeiten. „Alles nur eine Frage der Organisation!“, werden einige sagen. Nur: Genau das wollen wir nun wirklich nicht. Uns organisieren, um frei zu sein? Das ist doch paradox und tötet jegliche Spontaneität. Viel schöner ist es doch, Dinge passieren zu lassen, ohne uns vorher, nachher oder mittendrin zu stressen. Das neue Wildsein ist das Zulassen des Moments.

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Pippi Momente: Einfach mal die Wand der Wohnung farbig streichen, weil es sich gerade passend anfühlt – nicht, weil wir den Moment nutzen wollen. ©Lauren Lee / Stocksy United

Ringelstrümpfe zum blauen Kleid

In den Kinderzimmern von heute hat Pippi übrigens eine Nachfolgerin gefunden: Disneys Eiskönigin Elsa. Mit ihren großen blauen Kulleraugen, ihrer blonden Mähne und den schönen Kleidern erscheint sie uns wie ein Gegenentwurf zur Pippi unserer Jugend. Heute wollen alle Elsa sein. Aber warum auch nicht? Ihre Geschichte ist die einer mutigen Frau, die sich von Dingen verabschiedet, die ihr nicht guttun – und die Erzählung von zwei Schwestern, die in schweren Zeiten füreinander einstehen. Vielleicht erscheinen die Disney-Protagonistinnen auf den ersten Blick nicht so wild und frech wie Pippi. Aber sie sind ganz gewiss auch nicht so angepasst wie Annika, sondern mutig und stark. Wenn wir Elsa in Gedanken ein Paar Ringelstrümpfe anziehen, taugt auch sie durchaus als Vorbild für ein wildes, freies, unangepasstes Leben. Die „Pippi-Momente“ lassen wir uns aber trotzdem nicht nehmen.