Traum-Dachgarten über München: Ein Besuch bei Wagnis 4

Wenn Gärtner aufs Dach steigen, tun sich völlig neue Blickwinkel auf. In jeder Hinsicht. Dort oben ist nämlich mehr möglich, als viele glauben: vom Gemüse-Hochbeet bis zum Glashaus.

Die Idee des Dachgartens funktioniert. Das merkt man selbst an einem mittelgemütlichen Aprilmorgen, der einer stürmischen Nacht folgt. Ulrike Bez und ich bleiben nämlich nicht lange allein. Kaum sind wir auf dem Freiluft-Stockwerk angekommen, erscheint die erste Gärtnerin – bepackt mit jungen Tomatenpflänzchen – und eilt winkend Richtung Gewächshaus. Wir stehen auf dem Dach von Wagnis 4, einer genossenschaftlichen Wohnanlage in München Schwabing, direkt hinter dem Olympiapark.

Die Dokumentarfilmerin Ulrike Bez ist selbst Dachgärtnerin bei Wagnis 4. Ihr gehört ein Drittel des südlichsten Hochbeets, außerdem ein kleiner Beet-Abschnitt im unbeheizten Gewächshaus, das im Eck des L-förmigen Dachgartens steht. „So wie Wohnungsgröße und Anzahl der Zimmer, haben alle Bewohner schon weit vor Baubeginn angegeben, ob sie Interesse an einem eigenen Dachgartenbeet haben“, erzählt Ulrike Bez. „Diese Wünsche hat unser Landschaftsarchitekt in seinen Plänen verwirklicht.“ Nicht nur das. Rupert Wirzmüller und sein Team bei den Regensburger FreiRaumArchitekten haben einen Garten für alle rund 125 Bewohner der Anlage entworfen: Für die, die selbst in der Erde buddeln und Gemüse oder Kräuter ziehen wollen. Aber auch für die, die den Garten als Outdoor-Wohnzimmer nutzen möchten, ohne gleich unter die Gärtner gehen zu müssen.

Dachgarten München Urban Gardening
Ein Gemeinschaftsprojekt: Der Dachgarten von Wagnis 4 in München mit Blick auf den Olympiapark. © Stephanie Drewing

Dachgarten von wagnis 4: Beeren und Kräuter für alle

Über das offene Treppenhaus betreten wir den Gemeinschaftsgarten, der sich von Osten nach Westen erstreckt. Hier wachsen in einer langen Reihe die Heidelbeersorten ‘Bluecrop’ und ‘Berkeley’, die dank versetzter Reifezeit über viele Wochen köstliche Nasch-Beeren liefern. Sie wurzeln in saurem Boden, der auch der Ginsterhecke dahinter zugute kommt, die den Beerensträuchern Windschutz bietet.

Weiter vorne breitet sich eine Erdbeerwiese aus und die sonnige Südseite des Gewächshauses beherbergt ein Kräuterbeet, von dem jeder ernten darf. Breite Hochbeete aus wetterfestem Baustahl (Cortenstahl) trennen die gemeinsame Dachfläche in einzelne Gartenzimmer. In den Beeten wachsen Sträucher in lockeren Hecken, etwa Ölweiden, Kupfer-Felsenbirnen, Büschelrosen, Sommerflieder, Bartblumen und Perovskien. Die Ränder säumen Polster-Thymian, Polster-Oregano und Lavendel.

„Wind, volle Sonne und eine Erdschicht von maximal 60 cm stellen für viele Gehölze Extrembedingungen dar. Deshalb mussten wir uns zum Teil für nicht heimische Arten entscheiden.“ erklärt der Landschaftsarchitekt. Trotzdem schaffen Dachgärten neben ihrem besonderen Ambiente auch erheblichen ökologischen Nutzen: Wenigstens ein Teil der durch den Hausbau geraubten Grünfläche wird der Landschaft zurückgegeben.

Und gerade in Großstädten, die als Wärmeinseln gelten, helfen solche grünen Hochebenen die Luft zu kühlen. Aus diesem Grund regelt in Frankreich mittlerweile ein Gesetz, dass Gewerbe-Neubauten entweder ein grünes Dach oder eines mit Photovoltaik-Anlagen bekommen müssen.

Gemeinsam arbeiten und feiern im Dachgarten

In einem der Gartenzimmer lädt eine hölzerne XXL-Liegebank viele Menschen gleichzeitig zum Ausruhen und Reden ein. Denn darum geht es in einer Wohnbaugenossenschaft wagnis 4: um das Miteinander, ums Zusammenleben und nicht ums aneinander vorbei leben. „Und was wir noch mehr als alles andere gerne tun, ist feiern.“ verrät Ulrike Bez.

„Unsere Feste über den Dächern der Stadt sind legendär. Wir haben das große Glück, dass einer unserer Bewohner Wirt ist. Er baut dann eine richtige Bar auf und mixt traumhafte Cocktails. Außerdem sind einige Musiker unter uns, die für Livemusik sorgen.“ Damit liefert sie einen weiteren Beweis dafür, dass das Konzept Dachgarten bei Wagnis 4 aufgeht: Der Garten dient nicht allein dem ökologischen Gewissen. Er ist Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen. Und das rund ums Jahr. Ist mal kein Draußen-Wetter, trifft man sich im Wintergarten, den die Bewohner liebevoll Salettl nennen.

Die Pflege der gemeinsamen Fläche organisiert die Dachgarten­gruppe bei Wagnis 4. Sie ruft zu Aktionen auf, bei denen Freiwillige unter Anleitung Sträucher schneiden oder die Blumen- und Kräuterwiese sensen.

Ja, sensen. Statt auf sperrige und laute, gar stinkende Rasenmäher setzen die Dachgärtner auf diese alte Technik. Sie schont die Tiere im Gras und ersetzt mindestens eine Yoga- oder Meditationsstunde. Einige Mitglieder der Gruppe haben dazu extra einen Sensen-Kurs belegt. Ohnehin wird die Wiese höchstens zwei Mal im Jahr gemäht, besonders blütenreiche Stellen sogar nur einmal.

„Eigentlich finden sich immer genug Arbeitswillige.“ sagt Ulrike Bez. „Menschen, die in einer Genossenschaft wohnen, wollen ja für einander da sein. Wer nicht mehr fit genug ist für die Gartenarbeit, sorgt stattdessen für eine anständige Brotzeit.“ Gießkannen müssen übrigens nur im Gewächshaus oder zu den privaten Hochbeeten geschleppt werden. In den Gemeinschaftsbeeten tropft das Wasser computergesteuert aus Bewässerungsschläuchen. Eine Pumpe fördert es aus dem hauseigenen Brunnen bis aufs Dach von Wagnis 4 im vierten Stock.

Private Hochbeete für alle Bewohner im Gemeinschaftsgarten

Ums Eck, in Nord-Süd-Richtung, beginnt der private Dachgarten. Natürlich dürfen sich dort alle Bewohner aufhalten, aber eben nicht alle gärtnern. Sechs Hochbeete, 9 m lang und 1,20 m breit, stehen hier in Reihen. Jede Gärtner-Partei beackert einen Drei-Meter-Abschnitt nach eigenen Vorlieben. Ob dort Gemüse, Kräuter oder Blumen wachsen, dazu gibt es keine Regeln. Auch nicht, wie pfleglich der einzelne mit seinem Beet umzugehen hat. „Aber natürlich geben wir uns Tipps. Ob der andere will oder nicht,“ gibt Ulrike Bez zu. Ihr Lausbuben-Grinsen verrät aber, dass es zwischen Beetnachbarn wohl nie zu echten Konflikten kommt.

Wagnis 4 Dachgarten Hochbeete
Sechs private Hochbeete gibt es für die Bewohner von Wagnis 4 im des Dachgartens. © IMAGO / ecomedia/robert fishman

Die rund 50 cm hohe Erdschicht in den Beeten besteht aus gesiebtem Oberboden der Region, also humosem, sandigen Lehm, gemischt mit 10 Prozent Leonardit, einer Braunkohle-Vorstufe, die der Erde lange die nötige Struktur gibt und verhindert, dass sie zusammensackt. Als leichte Dränage bildet eine Schicht Glasschaumschotter die unterste Lage in den Hochbeetrahmen. Gedüngt wird vor allem mit eigenem Kompost, der auf der Nordseite des Gewächshauses in mehreren Behältern reift. Die Bewohner wissen, dass sie die Kästen nur mit Gartenabfällen füttern dürfen, während Küchenabfälle in die Bio-Tonnen gehören. Und sie halten sich daran. Alle Hochbeet-Gärtner haben ihren Anteil daran gekauft. So, wie die, die am Gewächshaus beteiligt sind, es mitfinanziert und gemeinsam errichtet haben.

Auch das macht das Genossenschafts-Leben aus: Von der Planung über die Umsetzung bis zur Pflege darf und soll jeder mitgestalten. Und das tun sie, die Genossen bei Wagnis 4, das sieht man.

Auf den Beeten im Freien trotzen bislang zwar vor allem mehrjährige Kräuter und Stauden einem ungewöhnlich launischen April – neue Pflanzen zu setzen, haben erst wenige gewagt – aber im Gewächshaus hat die Saison längst begonnen und dort treffen wir Ursula Bauer, die Dachgärtnerin von vorhin, wieder. Ihre Tomaten sind inzwischen gepflanzt und gegossen. Auf benachbarten Beeten wachsen Schnittlauch, Petersilie und Salate. Einige Mutige haben bereits Gurken-Pflänzchen ins unbeheizte Haus gesetzt.

„Ich gärtnere seit vielen Jahren, eher nach dem Prinzip Versuch und Irrtum,“ gesteht Ulrike Bez. „Aber wir haben auch richtige Profis, die ursprünglich vom Land kommen. Für die gehört es dazu, für die Familie so viel Gemüse wie möglich selbst anzubauen. Und das ermöglicht unser Dachgarten mitten in der Stadt.“


Wenn ein Wagnis 4 Bewohner einmal keine Lust mehr hat auf sein eigenes Beet oder die Kraft fehlt, es zu bewirtschaften, kündigt er das einfach in einer Versammlung an und findet sicher einen Nachfolger. Denn mittlerweile haben mehr Bewohner Geschmack am Dachgärtnern gefunden als sie es ursprünglich für möglich gehalten hätten. Aber auch das bestätigt wieder, dass Urban Gardening kein schnelllebiger Trend ist.

Dieser Artikel erschien zuerst in „kraut&rüben“ April/2018. Der Text wurde von Eva Puchtinger geschrieben.