Altes Korn, neue Saat – Vom Getreide zum Mehl

Ob klassisch oder trendig, slow oder fast, vegan, vegetarisch oder Trennkost: Fast jede Ernährungsphilosophie enthält Weizen & Co. Wie werden wir alle gesund satt? Getreide aufs Korn genommen.

Raureif hängt in den Feldern, die Böden sind kalt und hart – aber zwischen grau-weißlichen Mulden stehen zarte grüne Halme: Der Winterweizen wächst seiner Ernte im August entgegen. Ich bin auf dem Weg von München ins oberbayerische Umland und möchte genauer verstehen, was mir da täglich ganz selbstverständlich begegnet. Morgens im Müsli, mittags in Form von Pasta, abends auf dem Brotzeitteller oder sogar im Glas als Bier: Getreide

Es waren einmal … das Getreide und der Mensch

Auf unserem Speiseplan ist Getreide nichts Besonderes. Aber obwohl die gemeinsame Geschichte von Mensch und Getreide schon etwa 10.000 Jahre alt ist, stellt sie uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Als in der Jungsteinzeit die ersten Bauern und Viehzüchter im östlichen Mittelmeerraum sesshaft wurden, begannen sie wilde Süßkräuter zu kultivieren. Die geernteten Körner wurden zwischen Steinen zermahlen und zusammen mit Wasser auf dem Feuer zu brotähnlichen Fladen verbacken.

Die lange Haltbarkeit der Samenkörner ermöglichte nicht nur Vorratshaltung: In der Antike galt Getreide auch als verbreitetes Zahlungsmittel. Im Laufe der Jahrtausende wuchsen mit der Menschheit die Anbauflächen, aus dem Urkorn züchtete man unterschiedliche, immer ertragreichere Sorten mit verbesserten Backeigenschaften. Unsere moderne Form der Landwirtschaft entstand.

45 Millionen Tonnen Getreide allein in Deutschland

Heute sind Weizen, Dinkel, Hafer, Gerste, Roggen, Hirse, Mais und Reis neben Gemüse und Hülsenfrüchten unser wichtigstes Grundnahrungsmittel. Im Erntejahr 2021/22 werden laut USDA (United States Department of Agriculture) weltweit rund 2,8 Milliarden Tonnen Getreide geerntet, davon rund 45 Millionen Tonnen allein in Deutschland. Als Vergleich dazu: Deutschland baut jährlich rund 11 Millionen Tonnen Kartoffeln an.

Weizenkörner im Korb
Der Anteil der ökologischen Anbaufläche soll bis 2030 auf 30 % der gesamten landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland ausgeweitet werden. © Beate Zöttl

Morgenrot, schlecht Wetter droht

Unvorstellbare Zahlen. Wie kann unsere Landwirtschaft derartige Mengen produzieren? Wie schaffen es Millionen Tonnen Getreide vom Feld in die weitere Verarbeitung? Egal, ob die Samenkörner wieder ausgesät oder zu Mehl, Futtermittel, Öl, Bier, Whiskey, Getreidemilch und Stroh verarbeitet werden: Zunächst muss die Ernte eingebracht werden. Noch bis vor etwa 140 Jahren mähten Bauern das Getreide ausschließlich mit Sichel oder Sense und banden es zum Trocknen zu Garben.

Danach wurden die Samen aus den getrockneten Halmen gedroschen und die Spreu vom Weizen durch sogenanntes „Worfeln“ (Hochwerfen) getrennt.

Damals wie heute entstanden aus den Körnern beim Müller durch Vermahlen, Quetschen oder Schroten Produkte wie Mehl, Graupen, Gries oder Kleie. Die trockenen Halme ließen sich als Tierfutter oder zum Dachdecken verwenden.

Gegen Ende des 19 Jahrhunderts konnten sich die ersten Bauern durch Maschinen Unterstützung holen. Es gab mit Dampf betriebene Dreschmaschinen und in Deutschland ab den 1930er Jahren ein vom Traktor gezogener Mähdrescher. Dies erleichterte die Arbeit bereits ungemein, da das Getreide (fast) automatisch gemäht und gebunden wurde.

Die Ernte ging zwar viel einfacher, für unseren Bedarf im 21. Jahrhundert aber lange noch nicht schnell genug. Heute erledigen leistungsstarke Mähdrescher in landwirtschaftlichen Betrieben die Ernte und bündeln alle Arbeitsschritte in einer einzigen Maschine. So können riesige Felder innerhalb weniger Stunden geerntet werden, wo früher mehrere Arbeiter tagelang beschäftigt waren. Eines aber ist über all die Jahrhunderte unverändert geblieben und durfte damals wie heute nicht fehlen: geeignetes Wetter.

„Morgenrot, schlecht Wetter droht“ – ob wahr oder nicht, ich verstehe warum diejenigen, deren Existenz so sehr vom Wetter abhängt, ihre Erfahrungen in Bauernregeln verpacken.

Vollkornmehl und Auszugsmehle

Ernte gut, alles gut. Nach dem Drusch warten die wertvollen Samen auf ihren weiteren Einsatz. Jedes Getreidekorn besteht aus drei Teilen:

  • ca. 5 % aus dem Keimling: reich an Eiweiß und ungesättigten Fettsäuren, Vitaminen, Mineralstoffen und Enzymen
  • ca. 80 % aus dem Mehlkörper: reich an Stärke und Eiweiß
  • ca. 15 % aus den Schalenschichten: reich an Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen

Nur Vollkornmehl enthält alle diese drei Bestandteile. Entfernt der Müller vor dem Mahlen den Keimling, spricht man von Auszugsmehl. Je gröber das Mehl und je mehr Schalenschichten enthalten sind, desto dunkler wird es. Dieses Mehl hat eine höhere Typenzahl, die den Gehalt an Mineralstoffen angibt.

Für eine ausgewogene Ernährung liefern Mehle mit hohem Vollkornanteil am meisten Mineralstoffe, Vitamine und Ballaststoffe. Auch Fettsäuren sind enthalten. Sie können aber innerhalb weniger Wochen ranzig werden und machen das Mehl weniger haltbar. Daher wird der Keimling oft entfernt.

Züchtung oder Natur – eine Abwägung

Um alle Menschen satt zu bekommen, stellt die Industrie heute große Anforderungen an das zarte Korn. Aber was ist das eigentlich für ein Supergetreide? Ich bin mit Dr. Klaus Fleißner von der Arbeitsgruppe Kulturpflanzenvielfalt des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) in Freising verabredet. Im Projekt „ReBIOscover“ sucht und untersucht der Züchtungsforscher, Sortenschützer und Experte für pflanzengenetische Ressourcen alte regionale Getreidesorten.

Eine rote Mohnblume im grünen Gerstenfeld
Am Feldrand entdeckt man oft roten Klatschmohn. © Janine Fretz Weber – stock.adobe.com

Wir können nicht ohne Getreide leben

„Getreide ist die Haupt-Kohlenhydratquelle in der nördlichen Hemisphäre. Das geht von China bis in die USA. Wir können nicht ohne Getreide leben. Mit der sogenannten „Grünen Revolution“ in den 50er und 60er Jahren hat man mit neuen Hochleistungssorten die Erträge extrem geboostert, um den Hunger in der Welt nach dem 2. Weltkrieg zu bekämpfen.“ Im Mittelpunkt standen damals und auch heute noch hohe Ernteerträge und ein optimales Teigvolumen, erklärt er.

Pflanzenvielfalt oder ernährungsphysiologische Gesichtspunkte kommen oft eher an zweiter Stelle. Mit der Züchtung und Verbreitung weniger moderner Sorten nimmt allerdings die genetische Diversität ab, alte Sorten bleiben auf der Strecke. In der Folge verarmen historisch gewachsene Kulturlandschaften und genetisches Potential geht verloren. Um das zu verhindern, „wurde auf Bundesebene das nationale Fachprogramm Pflanzengenetische Ressourcen ins Leben gerufen und die Bundesländer beauftragt, sich um ihre regionalen Sorten zu kümmern.“

Seit Juli 2015 sucht und sichtet Dr. Fleißner alte bayerische Getreidesorten, die er von der Deutschen Genbank in Gatersleben (Sachsen-Anhalt) bezieht, neu anbaut und verbreitet. So hat er allein in Bayern bisher 730 Pflanzensorten von 23 Kulturarten mit bayrischem Bezug in der Genbank gefunden.

Mit alten Sorten gegen Unverträglichkeiten

Dr. Fleißner und sein Team sind Teil eines weiten Netzwerks. Seit dem internationalen Übereinkommen über biologische Vielfalt 1993 gibt es ähnliche Initiativen in mittlerweile fast allen Staaten der Erdeweltweit. Nahrungsmittel wie Getreide, deren Produktion und vor allem was sie für Mensch und Natur zurücklassen, finden immer mehr Beachtung.

Weizenkörner im Korb
Immer mehr Menschen reagieren negativ auf Weizen in unserer Ernährung. © Beate Zöttl

„Aus dem Verlust an Biodiversität entwickeln sich ganz neue Perspektiven. Zum Beispiel zum Thema Verträglichkeit: Im Laufe meiner Arbeit wurde ich von einigen Leuten angesprochen: ´Sind denn die alten Sorten verträglicher?` Ja, ich habe Rückmeldungen zum Beispiel aus Unterfranken, wo ich die alte Sorte ´Grells Unterfränkischen Landweizen` wieder in den Markt gebracht habe. Und die sagen alle, sie vertragen es besser.“, erzählt Fleißner.

Denn die Zahl der Menschen, die sensibel oder gar unverträglich auf glutenhaltige Getreideprodukte reagieren, nimmt zu. Ein Grund hierfür ist, dass Züchtungen auf optimierte Backfähigkeit, wie sie von der Back-„Industrie“ verlangt werden, oft die Verträglichkeit vernachlässigen. Fleißner wünscht sich „Züchtung für den Menschen und nicht für industrialisierte Nahrungsmittelproduktion.

Verträglichkeit hatte lange keine Priorität in der Züchtung. Aber das muss jetzt von den Züchtern aufgenommen werden, auch mal auf Verträglichkeit zu achten.“ Im Zusammenhang mit Reizdarmsyndrom und anderen Gluten-Sensitivitäten könnten alte Sorten ein wichtiger Baustein zur Lösung sein. Das vom Bund geförderte Projekt „ReBIOscover“, mit dem 2021 begonnen wurde und an dem neben der LfL auch das KIT (Karlsruhe Institut of Technology, das KErn (Kompetenzzentrum Ernährung) und die TUM (Technische Universität München) beteiligt sind, möchte in den nächsten Jahren diesen Zusammenhängen auf den Grund gehen.

Dr. Klaus Fleißner und Ulla Konrad
Dr. Klaus Fleißner und Ulla Konradl erforschen im Projekt „ReBIOscover“ alte regionale Getreidesorten. © Landesanstalt für Landwirtschaft

Wertschöpfungskette vom Feld bis auf den Teller

„Wir wollen im „ReBIOscover“-Projekt die ganze Wertschöpfungskette vom Feld bis auf den Teller abbilden. Wir untersuchen die verträglichkeitsrelevanten Inhaltsstoffe vom Korn und vom gemahlenen Mehl, dann von den Teigen in der Weiterverarbeitung und vom fertigen Brot. Wir wollen wissen, ob sich auch irgendwas in dieser Verarbeitungskette verändert“, sagt Ulla Konradl. Sie ist Mitarbeiterin im Team um Dr. Fleißner und kennt sich mit Krankheitsbildern und Unverträglichkeiten besonders gut aus.

„Wir haben drei Gruppen an Inhaltsstoffen ausgemacht, die verträglichkeitsrelevant sind: Das sind die ATIS: Amylase-Trypsin-Inhibitoren (Anm.: Proteine, die Keimung und Wachstum der Pflanze regulieren und sie gegen Fraßfeinde schützen), die FODMAPs, das sind langkettige Zucker, die Blähungen hervorrufen können, und verschiedene Eiweiße, die das Gluten ausmachen. Gluten ist ja nicht ein einziger Inhaltstoff. Gluten besteht aus vielen verschiedenen Eiweißen.“

Feld im Winter mit ersten jungen und grünen Getreidepflanzen im Wachstum.
Eine alte Weizensorte: Holzapfel © Florian Kraut; Biohof Kraut

Laut Dr. Fleißner entscheiden die Eiweiße „über die Verarbeitbarkeit des Teiges, wie der Teig wird. In der Züchtung wurde sehr viel an diesem Gluten-Eiweiß verändert. Das Verhältnis der Gluten-Proteine zueinander ist wichtig für die Backqualität oder die Maschinentauglichkeit.“ Verglichen werden soll vor allem, „welche Inhaltstoffe in den alten Getreidesorten und welche in den neuen Züchtungen enthalten sind, um herauszufinden, ob es hier Unterschiede gibt; ob und wie diese sich im Verarbeitungsprozess verändern“, sagt Konradl.

30 % ökologische Anbauflächen bis 2030

Auch aus ökologischer Sicht sind die alten Sorten interessant. Ausgeschriebenes Ziel des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ist „den Anteil der ökologischen Anbaufläche bis 2030 auf 30 % der gesamten landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland auszuweiten.“ (BMEL)

Hier könnten die alten Sorten punkten. Sie benötigen wegen ihrer Robustheit weniger Pflanzenschutz und können organische Dünger besser verwerten. Neuere Sorten haben einen kürzeren Stängel, für eine leichtere Ernte und eine bessere Standfestigkeit. Bei ihnen berühren sich Blattwerk und Ährenansatz fast. Aber genau „auf den unteren Blattetagen finden sich Pilzkrankheiten wie Mehltau, Septoria oder Gelbrost“ , sagt Fleißner.

Das macht eine häufigere Behandlung mit Fungiziden nötig. Bei alten Landsorten beträgt der Abstand zwischen dem letzten Halmknoten und dem Ährenansatz oft mehr als 50 cm und das Fahnenblatt und die Ähre stehen hoch über den unteren Blättern. Sie wehen im Wind und trocknen nach Regen schnell wieder ab – keine optimalen Bedingungen für Pilzkrankheiten. „Wir sehen die alten Sorten eher im ökologischen Landbau, weil sie dort die Behandlung bekommen, die sie brauchen und gewöhnt sind. Einfach ein bisschen, wie es früher war.“ , sagt Konradl.

Dr. Klaus Fleißner ist sich sicher, dass die alten Sorten in der Zukunft der Landwirtschaft eine Rolle spielen werden. „Denn: wir wollen ja alle eine nachhaltigere Landwirtschaft“.